«ICH KANN NACHTS NICHT MEHR SCHLAFEN»

Die Lage im Libanon ist und bleibt katastrophal: Wirtschaftskrise, COVID-19 und die grosse Zerstörung nach der Explosion im Hafen letzten Sommer. All das zusammen hat das Land stark gebeutelt. Nach der grossen Explosion im August leistete HEKS sofort Nothilfe, um den betroffenen Menschen rasch und unbürokratisch zu helfen. Der Projektverantwortliche Sebastian Zug berichtet in dieser Reportage von seinem Einsatz in Beirut.

Der Libanon kommt nicht zu Ruhe. Seit Monaten liegt die Wirtschaft am Boden und es herrscht Hyperinflation, die Banken sind in der Krise und haben das Ersparte vieler Menschen blockiert. Seit Mitte Juli hat der Libanon zudem sehr hohe COVID-19- Fallzahlen. Als wäre dies nicht genug, explodiert am 4. August in einer Halle im Hafen von Beirut unsachgemäss gelagertes Ammoniumnitrat, ein Grundstoff unter anderem für Düngemittel. Eine gute Stunde später zeigt die «Tagesschau» Bilder der zerstörerischen Druckwelle. Auf unseren Handys sehen wir die Explosion aus verschiedensten Perspektiven. Die Bilder sind surreal und erinnern eher an einen Actionfilm oder ein Computerspiel, doch die Auswirkungen sind real: zerstörte Häuser, verletzte Menschen, überfüllte Krankenhäuser – und Menschen, die nun mit ihren inneren und äusseren Verletzungen umgehen müssen. Nicht das erste Mal in der Geschichte des Libanons.

Ein Bild der Katastrophe: Die gewaltige Explosion im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut am 4. August 2020 hinterliess Tod und Verwüstung.

Mein Einsatz in Beirut

Rund eine Woche später steht definitiv fest: Ich kann trotz COVID-19 in den Libanon reisen und Mitarbeitende unserer Partnerorganisation «Najdeh» vor Ort treffen. Nach zwei COVID-19-Tests und 24 Stunden in Quarantäne im Hotelzimmer stosse ich zum «Najdeh»-Team. Seit 2013 arbeitet HEKS mit der lokalen Partnerorganisation zusammen. «Najdeh» bekennt sich mit Stolz zu zwei Attributen: dem Feminismus und ihrer palästinensischen Herkunft. Mit der Staatsgründung Israels mussten die Palästinenser aus ihrer Heimat flüchten, unter anderem in den Libanon, wo sie auch heute noch, mehr als 70 Jahre später, nur eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Leistungen des Staats wie Bildung und Gesundheit haben. Und sie leben weiterhin überwiegend in Flüchtlingscamps. Dort unterstützte HEKS jahrelang zusammen mit «Najdeh» vor allem die Menschen, die in grösster Not leben, mit Bargeld und bei der Renovation ihrer Wohnungen.

«Najdeh» - unser Partner in Libanon

Dass wir das aktuelle Nothilfeprojekt im Libanon gemeinsam mit einer palästinensischen Organisation umsetzen, obwohl die palästinensischen Flüchtlingslager nicht von der Explosion betroffen waren, ist in diesem Fall auch ein wichtiges Symbol. Denn normalerweise sind sie diejenigen, die um Unterstützung bitten müssen. Es war für mich sehr eindrücklich, den Stolz der Mitarbeitenden von «Najdeh» zu erleben, mit dem sie sich bei den libanesischen Begünstigten vorstellten: «Wir sind von ‹Najdeh›, das ist eine palästinensische Organisation.» Und sie berichten mir über das Erstaunen ihrer libanesischen Gegenüber, die keine palästinensische Organisation erwartet hätten, die ihnen nun hilft. Auch darin liegt die Bedeutung dieses Projekts: Der gewohnte Bittsteller wird plötzlich zum Helfer in der Not, gefestigte gesellschaftliche Muster werden so in Frage gestellt. Und das ist gut so.

Wer kriegt Unterstützung?

Als ich in Beirut ankomme, sind die Mitarbeitenden von «Najdeh» schon mitten in der Selektion der Begünstigten. Ein Prozess, den wir bereits vor meiner Ankunft während langer Telefonate erarbeitet haben. Dieser Schritt ist sicherlich der komplexeste der ganzen Intervention. Die humanitäre Charta fordert mit dem «Prinzip der Unparteilichkeit», dass Begünstigte ausschliesslich nach ihrer Bedürftigkeit ausgewählt werden und nicht nach Religion, Ethnizität, Nationalität und anderen persönlichen Merkmalen. Der Druck, dieses Prinzip zu umgehen, ist gross. So versucht uns etwa ein gewählter Vorsteher eines Stadtviertels davon zu überzeugen, Personen aufzunehmen, die ihn dann bei der nächsten Wahl wiederwählen sollen. Da wir auf seine Erlaubnis angewiesen sind, in «seinem» Stadtviertel arbeiten zu können, kostet es uns viel diplomatisches Geschick, ihm klarzumachen, dass wir jede Wohnung in jedem beschädigten Haus selber besuchen und durch Beobachtung und einen Fragebogen sicherstellen, dass die dort lebenden Familien tatsächlich zu den Bedürftigsten gehören. Ganz einfach ist das nicht in Beirut, wo wegen der wirtschaftlichen Krise sogar die Mittelschicht in die Armut abrutschte – auch ohne die Explosion.  

Erinnerungen werden wach

Ich treffe den 30-jährigen Schauspieler und Dramaturgen Mahdi Shabat, der 2017 aus Syrien in den Libanon geflohen ist. Er ist von der Explosion traumatisiert. Sein Arm wird von einer Bandage gehalten. Er hat sich während der Explosion verletzt, als eine Tür auf seine Schulter fiel. Seine Wohnung ist zerstört: Die Fenster sind zerborsten und wenn er in seiner Küche steht, sieht er den Himmel. Die Explosion habe in ihm die schlimmsten Erinnerungen aus dem syrischen Krieg wachgerufen, erzählt er: «Ich komme aus Syrien und ich habe bereits dort drei grosse Explosionen erlebt. Das ist nun die vierte und mit ihr kommen alle meine Erinnerungen an den Krieg wieder hoch. Es ist einfach schrecklich. Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich höre immer wieder diesen Knall.» Er sei in der Hoffnung hierhergekommen, an einem sicheren Ort leben zu können. Alle seine Träume seien zerstört worden. «Sobald ich physisch wieder in der Lage bin und mein Haus repariert ist, werde ich zur Arbeit zurückkehren und werde über diese Katastrophe schreiben», sagt er. HEKS unterstützt deshalb zum einen 1750 Familien - unabhängig von ihrer Religion und Nationalität - und Haushalte, deren Häuser und Wohnungen in einem Umkreis von zwei Kilometern vom Explosionsherd liegen, und die deshalb von der Katastrophe besonders schwer getroffen wurden. Diese Familien erhalten drei monatliche Geldzahlungen von je 200, 250 und noch einmal 250  Franken («unconditional cash»). Die Raten wurden im September, Oktober und November ausbezahlt. Damit können sie sich mit lebensnotwendigen Gütern wie Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgen. Diese Sofortmassnahme wird durch die langjährige, lokale HEKS-Partnerorganisation «Najdeh» implementiert.

«Ich komme aus Syrien und ich habe bereits dort drei grosse Explosionen erlebt. Das ist nun die vierte und mit ihr kommen alle meine Erinnerungen an den Krieg wieder hoch. Es ist einfach schrecklich. Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich höre immer wieder diesen Knall.»
Mahdi Shabat

HEKS im Libanon

HEKS unterstützt zum einen 1750 Familien und Haushalte, deren Häuser und Wohnungen in einem Umkreis von zwei Kilometern vom Explosionsherd liegen, und die von der Katastrophe besonders schwer getroffen wurden. Diese Haushalte erhalten Bargeld, damit sie sich mit lebensnotwendigen Gütern wie Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgen. Diese Sofortmassnahme wird durch die langjährige, lokale HEKS-Partnerorganisation «Najdeh» implementiert. Zum anderen unterstützt HEKS die Wiederinstandsetzung schwer beschädigter Gebäude, darunter auch das Gemeindezentrum der HEKS-Partnerorganisation «Union der Armenisch-Evangelischen Kirche im Nahen Osten» (UAECNE) in Beirut. HEKS leistet in Libanon mit Unterstützung der «Glückskette» seit Jahren humanitäre Hilfe, unter anderem für syrische Flüchtlings- und Gastfamilien. Zudem unterstützt HEKS im Rahmen der kirchlichen Zusammenarbeit mit reformierten Partnerkirchen Nachmittagsschulen und Freizeitprogramme für Kinder und Jugendliche. 

Die Menschen in Beirut brauchen Ihre Hilfe!

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