Flucht vor dem Unmenschlichen
Eine Reportage von der serbisch-kroatischen Grenze


Nach achtstündiger Fahrt im Bus können sich die Flüchtlinge mit dem Nötigsten eindecken.
Nach achtstündiger Fahrt im Bus können sich die Flüchtlinge mit dem Nötigsten eindecken.
Das könnten wir sein
Es ist 11.30 Uhr. Ein doppelstöckiger Bus hält unweit der serbischen Stadt Šid auf freiem Feld. Es ist bereits der siebzehnte an diesem Morgen. Er kommt aus Preševo an der mazedonischen Grenze. Nach achtstündiger Fahrt sind die 65 Fahrgäste, die hauptsächlich aus Syrien und Afghanistan stammen, hungrig und erschöpft. Ihnen wird erklärt, dass sie möglichst schnell die kroatische Grenze erreichen müssen. An den Ständen der Hilfsorganisationen decken sie sich rasch mit Lebensmitteln ein, waschen sich und ziehen saubere Kleider an.
Unter ihnen ist auch Sur Suhaila. Die 30-jährige Syrierin ist seit zehn Tagen allein mit ihren vier Kindern und den vier Töchtern der Schwester unterwegs. Nachdem sie den Bus verlassen hat, füllt sie die Taschen mit Lebensmitteln: Bananen, Äpfel, Brot, Energieriegel, Wasserflaschen, Feuchttücher und Zahnbürsten. Sie bittet um eine Hose für ihren zehnjährigen Sohn, nimmt Strumpfhosen für die jüngeren Mädchen und breitet dann eine Decke auf dem Boden aus, um mit den Kindern schnell noch etwas zu essen, bevor es über die Grenze geht. Bloss nicht zurückschauen und jeden Gedanken an den Ehemann, dessen Spur sie verloren hat, wegschieben.

Der Zustand der Toiletten, die nur einmal pro Woche geputzt werden, ist katastrophal.
Der Zustand der Toiletten, die nur einmal pro Woche geputzt werden, ist katastrophal.
«Jeden Tag treffe ich Kinder und Frauen, deren Schicksal mich berührt», berichtet Novitca Brankov, eine Freiwillige, die für das HEKS-Partnerhilfswerk «Ecumenical Humanitarian Organisation» (EHO), Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter verteilt. «Es ist unmöglich, gleichgültig zu bleiben. Das könnten ebenso gut wir sein!»
Fatimah, eine 21-jährige Afghanin, ist die Mutter der zweijährigen Hasina, die sie vor dem Bauch trägt. Seit zwei Monaten ist sie unterwegs. Sie träumt von Schweden, wo sie hofft, ihren Bruder wiederzufinden. Mit ihrem Ehemann, dem Schwager und den Schwägerinnen sind sie zu sechst. Gemeinsam sind sie aus Kabul geflohen, vor der Bedrohung durch die Taliban. Hinter ihnen liegt auch eine beschwerliche Reise durch den Iran. Zwei Stunden später treffen wir sie in Kroatien wieder, in einem vom Militär geführten Übergangslager, das wie ein Gefängnis abgeschirmt und von Dutzenden uniformierten Männern bewacht wird. Sie brüllen: «Stopp!» Und: «In einer Reihe aufstellen!» Die Menschen müssen sich in Reihen zu fünfzig Personen aufstellen und können erst dann zuerst in den Bus und dann in den Zug steigen, der sie anschliessend zur ungarischen Grenze bei Beli Manastir und Richtung Österreich bringt. Ein längerer Aufenthalt in Kroatien steht ausser Frage.
Der Stress der Nacht
Zurück an der serbisch-kroatischen Grenze bei Šid. Es ist Nacht. Alle zehn Minuten kommt ein weiterer Bus mit Flüchtlingen an. In dieser Nacht sind es 4000. Die Beklemmung der Menschen ist mit den Händen greifbar. Befehle werden gebrüllt, verhallen aber oft unverstanden. Vor allem Eltern mit kleinen Kindern haben Angst, sich im Dunkeln zu verlieren. «Wo sind wir? », «Wo gehen wir hin?», fragen die Neuankömmlinge. Es ist 21 Uhr und das Thermometer zeigt 16 Grad an. Vor zwei Tagen hat die HEKS-Partnerorganisation EHO damit begonnen, Decken zu verteilen – 150 pro Nacht. «Wir bemühen uns, sie den Schwächsten zu geben», erklärt Projektkoordinatorin Borka Vrekic. Ein Freiwilliger schiebt eine Frau im Rollstuhl, ein Angehöriger legt ihr eine Decke über die Knie. Die Unterstützung, die sich die Menschen hier gegenseitig bieten, ist unglaublich. Fast alle sind in Gruppen unterwegs und helfen einander. Diese Solidarität in Verbindung mit grosser Höflichkeit ist alles, was ihnen geblieben ist. Zu Rangeleien kommt es kaum.
Nur das Nötigste
Zwei Tage später. Das Wetter hat sich weiter verschlechtert. In der Nacht davor hatte es geregnet und jetzt lässt ein kalter Wind die Hände frieren. Wieder haben 4000 Menschen Halt gemacht und es fehlt an Decken. Temperatur: 11 Grad. Mitarbeitende von EHO verteilen Regenpelerinen. Manche Flüchtlinge tragen Shorts, andere gehen barfuss. Eine junge Somalierin probiert Gummistiefel an, wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Die alten Turnschuhe landen im Müll.
Alle wichtigen Güter sind willkommen. Aber nur was die Menschen unmittelbar brauchen, können sie bei sich behalten. Das ist die Regel dieses Dramas, bei dem diese Flüchtlinge alles verloren haben und nur bei sich tragen können, was im Moment notwendig ist. Dasselbe gilt für Lebensmittel. «Das ist eine grosse Herausforderung», sagt Borka Vrekic, «und zeigt, warum HEKS und EHO keine Soforthilfe-Pakete verteilen. Für die Menschen ist es einfacher, wenn sie nur das nehmen, was sie wirklich brauchen, um Ballast zu vermeiden.»
Jetzt müssen sich die Flüchtlinge in zwei Reihen zu je 25 Personen aufstellen, um vor den Augen der kroatischen Polizei die Grenze zu überqueren. Wie kann es im 21. Jahrhundert zu einem solchen Flüchtlingsstrom kommen? Was wird wohl aus Sur, Fatimah und all den anderen Flüchtlingen? Kann der Westen den Idealen von Freiheit, Demokratie, Frieden und Arbeit, für die er steht, entsprechen? Wie können wir Menschlichkeit zeigen? Es sind nicht die Flüchtlinge, die uns Angst machen sollten. Sondern die Tatsache, dass Menschen auf der Flucht sind.

Es sind nicht die Flüchtlinge, die uns Angst machen sollten. Sondern die Tatsache, dass Menschen auf der Flucht sind.
Es sind nicht die Flüchtlinge, die uns Angst machen sollten. Sondern die Tatsache, dass Menschen auf der Flucht sind.
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